Corona hat es deutlich gemacht: Forschung, die von einem offenen Austausch und internationaler Zusammenarbeit profitiert, ist effizienter und zielstrebiger. Die Open-Science-Bewegung kämpft seit Jahren für mehr Offenheit und Transparenz in der Wissenschaft. Die Pandemie könnte ihr neuen Aufwind verschaffen.
Von Sandra Martin und Cornelia van Scherpenberg
Die Erwartungen an die Wissenschaft während der Corona-Pandemie sind hoch. Wissenschaftliche Erkenntnisse zum COVID-19-Virus und dessen Eindämmung sind von enormem Interesse, Entscheidungen für politische Maßnahmen orientieren sich maßgeblich an den Empfehlungen von Wissenschaftlern und die Erforschung von Impfstoffen und Medikamenten gegen das Virus ist mit immensen Hoffnungen auf eine baldige Rückkehr zur Normalität verbunden. In den letzten Monaten ist damit eine Disziplin ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, die sonst die meiste Zeit hinter verschlossenen Türen arbeitet und oft nur bei einzelnen, bahnbrechenden Erkenntnissen ans Licht tritt.
Derzeit können wir das Gegenteil beobachten: Forschende teilen ihre Daten zwischen den jeweiligen Laboren, um die Suche nach einem geeigneten Impfstoff zu beschleunigen. Sie stellen brandneue Erkenntnisse als sogenannte Preprints ins Netz, noch bevor sie das klassische Begutachtungsverfahren (Peer-Review) durchlaufen haben, und diskutieren diese dann in Blogs, Podcasts und den sozialen Medien. Eine breite Öffentlichkeit wird sich so darüber bewusst, wie Wissenschaftler arbeiten und wie Erkenntnisse etabliert, validiert oder womöglich auch wieder verworfen werden. Zugleich wird sichtbar, welche Reibung der unterschiedliche Umgang mit Ungewissheiten zwischen Medien, Politik und Wissenschaft erzeugen kann. Erstere suchen nach schnellen Lösungen und Erfolgsmeldungen, die Forschende in diesem Tempo nicht liefern können – zumindest nicht endgültig. Die Wissenschaftler wiederum sind unter Druck und sollen plötzlich in Windeseile Antworten finden, für die sonst jahrelange Forschungsarbeit nötig wäre.
Dabei bietet der derzeitige Prozess große Chancen für den Wissenschaftsbetrieb. Er hat das Potenzial, eine Entwicklung zu befeuern, die viele seit Jahren propagieren: dass Forschung offener, transparenter und gemeinschaftlicher sein muss. Dahinter steht die Open-Science-Bewegung. Aber warum brauchen wir das überhaupt, eine offene Wissenschaft?
Die Replikationskrise verletzte das Vertrauen in die Wissenschaft
Vor ein paar Jahren trat in empirisch arbeitenden Wissenschaften wie der Psychologie, den Neurowissenschaften, der Ökonomie oder auch der Medizin die sogenannte Replikationskrise auf. Forschende aus unterschiedlichen Arbeitsgruppen versuchten, publizierte Studien anderer Wissenschaftler zu replizieren, also mit denselben Methoden und Analyseschritten auf die gleichen Ergebnisse zu kommen. Das Ergebnis: Der Versuch schlug in vielen Fällen fehl. Effekte waren plötzlich nicht mehr statistisch signifikant oder die Unterschiede zwischen den Versuchsgruppen und experimentellen Bedingungen waren wesentlich kleiner als zuvor angenommen. Und häufig scheiterten die Forschenden schon zu Beginn ihres Replikationsversuchs: Entweder gab es nicht genügend Informationen über die Daten, die der Publikation zugrunde lagen, oder sie wurden sogar zurückgehalten. All dies verletzte das Vertrauen in die Disziplinen immens: Waren die Ergebnisse vielleicht nur Zufallsbefunde und gar nicht echt, womöglich sogar gefälscht?
Es war klar, dass sich etwas ändern musste. Die vielfältigen Arbeitsschritte – die Definition einer Forschungsfrage, die Literaturrecherche, der Entwurf eines Experiments oder die Planung der Feldarbeit bis zur Erhebung von Daten sowie der Analyse und Verbreitung der Ergebnisse – sollten für andere Forschende einsehbar sein. Damit sollte sichergestellt werden, dass bei Abschluss einer Studie nachvollziehbar ist, auf welchen Daten Wissenschaftler ihre Erkenntnisse stützen und mit welchen Methoden sie zu dem entsprechenden Ergebnis gekommen sind.
Die Open-Science-Bewegung schafft Plattformen für Transparenz und Austausch
Ein wichtiger Aspekt der Open-Science-Bewegung ist es deshalb, Infrastrukturen für den öffentlichen Zugang zu Forschungsdaten und -ergebnissen zu schaffen. Hier hat sich in den letzten Jahren einiges bewegt. Inzwischen gibt es Plattformen, auf denen Forschende ihre geplante Studie ankündigen und bestimmte Parameter bezüglich des Experiments von vornherein festlegen. Diese umfassen zum Beispiel den Studienaufbau, die geplante Stichprobengröße oder die Analysemethoden. Diese „Prä-Registrierungen“ sind auf Websites wie dem Open Science Framework (OSF) und AsPredicted für die Allgemeinheit auch nach Vollendung und Veröffentlichung einsehbar. Damit will man Rosinenpickerei oder gar Verzerrung der Daten verhindern – also, dass Ergebnisse nicht berichtet oder Datensätze unter den Tisch gefallen lassen werden, weil sie nicht zu den Hypothesen passen.
Damit außerdem ersichtlich ist, wie Wissenschaftler zu ihren Ergebnissen gekommen sind, können sie ihre gesammelten Daten und die Statistik ebenfalls auf diesen Plattformen (zum Beispiel das OSF oder OpenNeuro für die Neurowissenschaften) hinterlegen. Andere Forschende können so die Daten für neue Analysen nutzen, die Zusammenarbeit untereinander verstärkt sich.
Die Open-Science-Bewegung will jedoch nicht nur die Wissenschaft im Inneren verändern. Ziel ist es auch, einem breiteren Publikum den Zugang zu wissenschaftlichen Erkenntnissen zu ermöglichen. Dafür macht sich die Open-Access-Initiative stark. Oftmals müssen nämlich fachspezifische Zeitungen oder Artikel für viel Geld bei einem Verlag erworben werden. So geben Universitäten und Forschungsinstitutionen je nach Zeitschrift und Verlag mehrere Tausend Euro für Abonnements aus, mit denen sie schlussendlich für die Forschungserkenntnisse bezahlen, die sie ursprünglich selbst finanziert und den Verlagen zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt haben. Ziemlich absurd, oder?
Dieses Vorgehen erschwert der Öffentlichkeit, aber auch den Wissenschaftlern selbst den Zugang zu wichtigen Erkenntnissen und hemmt einen freien Austausch. Von der Doppelbelastung öffentlicher Gelder ganz zu schweigen. Auch wenn der Prozess langsam voranschreitet, ein Umdenken hat eingesetzt. Inzwischen gibt es Verlage, die alle ihre Aufsätze frei verfügbar machen (zum Beispiel Frontiers), und andere, die zumindest einen Teil ihrer Artikel frei ins Netz stellen (zum Beispiel Springer Nature). Zusätzliche Unterstützung bekommt die Open-Access-Bewegung vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, das den uneingeschränkten Zugriff auf wissenschaftliche Veröffentlichungen langfristig als Standard etablieren möchte.
Eine weitere Lösung für einen freien und direkten Zugang zu Forschungsergebnissen bieten Preprint-Server (zum Beispiel bioRxiv), auf denen Forschende ihre fertige Studie vor der üblichen Begutachtung durch andere Wissenschaftler und der Veröffentlichung in einer fachspezifischen Zeitung hochladen. Dass dieses Verfahren dennoch einen besonders behutsamen Umgang mit den noch immer vorläufigen Ergebnissen erfordert, zeigte sich unlängst. Ergebnisse zur Viruslast von COVID-19 bei Kindern und Erwachsenen, die die Autoren um Christian Drosten im Rahmen eines Preprints veröffentlichten, wurden medial zu schnell aufgebauscht und als sicher interpretiert. Die Studie war noch keiner Peer-Review unterzogen worden. Auf die von verschiedenen Experten geäußerte Kritik reagierten die Autoren prompt und überarbeiteten ihr Manuskript. Das Beispiel macht zudem deutlich, welche Verantwortung im Umgang mit wissenschaftlichen Erkenntnissen bei den Medien liegt: Trotz Wettlauf um die schnellste Berichterstattung sollte die gebotene Vorsicht bei vorläufigen Ergebnissen nicht vernachlässigt werden.
Einer offenen Wissenschaft gehört die Zukunft
Eine transparente und gemeinschaftliche Wissenschaft – dafür sprechen sich zunehmend mehr Wissenschaftler aus. Besonders unter Nachwuchsforschenden ist der Zuspruch groß, denn das Bedürfnis nach einem Wissenschaftsbetrieb, der statt hinter verschlossenen Türen offen und miteinander arbeitet, steigt. Nur wenn Open Science zum Standard für wissenschaftliches Arbeiten wird, können sich Forschende vertrauen und gemeinsam an einem Ziel arbeiten. Und nicht nur die Wissenschaft selbst profitiert davon, auch die Öffentlichkeit gewinnt. Die Debatten zur Corona-Pandemie, aber etwa auch zum Klimawandel zeigen, wie ein transparenter, verständlicher Diskurs über die aktuelle Forschung mit all ihren Hürden und Unsicherheiten notwendige Maßnahmen in der Bevölkerung nachvollziehbar machen kann. Langfristig kommt Forschung so dort an, wo sie hingehört: in der Mitte der Gesellschaft.
August 26, 2020 at 10:22PM
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